Zu viel Sicherheit verhindert ein erfülltes Leben
Das Leben ist unberechenbar. Als ich heute auf meinem Pferd durch den Wald zockelte, waren die nächsten Menschen mindestens 500 Meter entfernt; weit und breit kein Zweibeiner zu sehen. Nicht, dass es mich gestört hätte, einem oder mehreren zu begegnen – aber die Abwesenheit von Menschen gilt ja im Moment als Qualitätssiegel für Sicherheit und die garantierte Möglichkeit, Krankheit und Tod zu verhindern.
Die Vögel sangen, die Luft war lau und der Himmel blau, als ich es rechts von uns im Gebüsch rascheln hörte. Ich dachte an ein Reh, doch zu meiner Überraschung zeigte sich ein ausgewachsener Keiler – Luftlinie zirka fünfzehn Meter; zwischen uns ein Graben, den der Kerl locker hätte überwinden können. Ausweichmöglichkeiten hatte ich nicht.
Kurz überlegte ich, ob ich kehrtmachen und im Galopp zurück zum Stall eilen sollte. Denn ich war vor Jahren im Wald von einer wütenden Bache angegriffen worden, was mir gehörig Respekt eingejagt hatte. Aber dann hielt ich inne und schaltete meine Wahrnehmung auf „fein“.
Mein Pferd war aufmerksam, aber vollkommen entspannt. Der Keiler wirkte ebenfalls nicht, als sei er auf Krieg aus. Gemächlich lief er in die gleiche Richtung wie wir, unterbrochen durch kleine Pausen, in denen er prüfend, aber unaufgeregt zu uns rüber sah. Pferdchen erwiderte seinen Blick gelassen und kümmerte sich nicht weiter um ihn.
Noch einmal lauschte ich nach innen, dann erneut in mein Pferd hinein und hinüber zum Keiler. Nach wie vor verspürte ich kein ungutes Gefühl in meinem Bauch, vernahm keine warnende innere Stimme; einzig mein Verstand plapperte unkend vor sich hin (aber das ist nun mal seine Daseinsberechtigung). Über mein Herz versuchte ich dem Keiler liebevoll zu vermitteln, dass ich ihm sein Revier nicht streitig machen will, sondern nur meiner Wege ziehen möchte, genau wie er.
So war es dann auch. Er bog nach einiger Zeit nach rechts ab, wir nach links.
Ich bin froh, dass ich nicht geflüchtet bin. So konnte ich die Kraft und Ursprünglichkeit dieses eindrucksvollen Tieres spüren und erfahren, dass derartige Begegnungen auch friedlich ausgehen können. Gleichzeitig zeigte sich, wie wertvoll es ist, die eigene Wahrnehmung zu schulen und dank ihr in derartigen Situationen erkennen zu können, wo wahrhaftig Gefahr droht und wo nicht.
Ein Tool, das ich nicht mehr missen möchte.